Soll ich das Gespräch mit ihm suchen und der Sache noch eine Chance geben? Oder es einfach abhaken und loslassen? Vielleicht auch einfach abwarten, was passiert? Instinktiv tendiere ich dazu, die Dinge erstmal laufen zu lassen – es belastet mich nicht stark. Aber mit 45 frage ich mich, ob ich damit wertvolle Lebenszeit verliere. Ich wünsche mir einen verlässlichen Partner.
Ich bin seit langer Zeit Single und habe schon einige Enttäuschungen erlebt, aber so etwas ist mir noch nie passiert. Habe ich mich von einem Casanova blenden lassen?
Bis vor Kurzem
Bis vor Kurzem dachte ich, in einer festen Beziehung zu sein – doch das Bild hat sich nun verändert.
Seit Mai letzten Jahres treffe ich mich mit einem Mann, drei Jahre älter als ich. Es lief von Anfang an unkompliziert: kein Zögern, kein Hin und Her. Ich war zunächst skeptisch, weil nicht sofort der Funke übergesprungen ist, aber mit der Zeit wurde mir klar, dass wir hervorragend harmonieren. Wir teilen die gleichen Interessen, Hobbys und Einstellungen zum Leben. Wir haben immer Spaß zusammen, großartige Gespräche über alles – von Nichtigkeiten bis zu Politik und persönlichen Themen.
Ein Punkt fiel mir allerdings auf: Wir sahen uns nur alle drei bis vier Wochen. Das ließ sich erklären – er ist Unternehmensberater und hat einen Sohn, der 300 km entfernt wohnt. Ich selbst bin eine vielbeschäftigte Psychotherapeutin. Die seltenen Treffen störten mich nicht direkt, aber sie kamen mir ungewöhnlich vor. Dennoch hatten wir täglich Kontakt per Telefon oder Signal.
Ein klassisches „Beziehungsgespräch“ hatten wir nie, aber wir haben uns gegenseitig versichert, dass wir niemand anderen treffen und füreinander da sind. Er sagte einmal, er habe sein Leben lang eine echte Partnerin gesucht – und sie nun gefunden. Er wollte sogar meine Mutter kennenlernen, was ich kürzlich ermöglicht habe.
Alles schien gut zu laufen – bis auf die seltenen Treffen. Besonders auffällig wurde es, als er für einen Monat zur Schulung nach New York musste. Ich hätte ihn gerne dort besucht, aber er meinte, er sei zu beschäftigt und wolle nicht abgelenkt werden. Ich fand das seltsam, schob es aber auf seine zerstreute Art.
Dann passierte Folgendes
Vor einem dreitägigen Aufenthalt in Dänemark mit anschließendem Seminar in Oslo schickte er mir vor dem Abflug eine Gute-Nacht-Nachricht. Ohne großes Nachdenken, aber bewusst in der Wortwahl, antwortete ich: „Vermisse Dich. Liebe Dich.“
Seine Reaktion war unerwartet. Er schrieb: „Das überrascht mich jetzt. Wir kennen uns doch gar nicht.“ Dann rief er mich an – völlig aufgewühlt. Warum ich ihm das schreiben würde, fragte er. Das habe er nicht gewollt. Er meint, wir tun uns einfach gut. Ich solle nicht verletzt sein.
Mir wurde klar, dass er sich wohl deshalb so wenig Zeit für mich genommen hatte. Doch er verneinte das – es liege wirklich nur an seinem vollen Terminplan. Ich sagte ihm, dass ich mir über alles Gedanken machen müsste.
Seltsamerweise trifft mich das Ganze weniger, als ich gedacht hätte. Natürlich bin ich enttäuscht – es fühlt sich an, als wäre eine schöne Gewohnheit plötzlich verschwunden, eine angenehme Gewissheit weg. Das finde ich schade.
Er verhält sich jetzt, als wäre nichts passiert, vielleicht sogar ein wenig charmanter als zuvor. Gestern haben wir kurz telefoniert – und morgen will er sich mit mir treffen.
Liebesbeziehung – ein Spiegel, woran wir wachsen dürfen
Wir haben uns über deine Frage gefreut, ob du diese unterschiedliche Einschätzung deiner Freundschaft mit ihm noch mal besprechen solltest, um vielleicht dem Ganzen eine Chance zu geben oder einfach abzuhaken.
Erstmal im Allgemeinen: Eine Freundschaft oder eine Liebesbeziehung ist neben etwas, was wir genießen können, gleichzeitig auch ein Spiegel, woran wir wachsen dürfen. Wenn du die Wörter benutzt „Vermisse Dich. Liebe Dich“, oder er: „Warum schreibst Du mir das? Das habe ich nicht gewollt. Wir tun uns einfach gut. Du solltest nicht verletzt sein“, dann stecken hinter diesen Wörtern viele Gefühle:
- Manche Gefühle sind wahrscheinlich Standard, andere verletzlich, weich und vielleicht nur zum Teil bewusst.
- Manche Gefühle haben mit dem Hier-und-Jetzt zu tun, andere vielleicht mehr mit der Vergangenheit.
- Manche Gefühle spüren und teilen wir jeden Tag. Für andere Gefühle haben wir vielleicht noch nie Wörter gefunden und sie noch nie mit anderen geteilt.
Beziehungen, in denen hauptsächlich Standard-Emotionen aus der Vergangenheit ausgetauscht werden – ein bisschen wie im Arbeitsmodus -, sind eher distanziert und geben wenig Boden zum Wachsen. Dahingegen bringt ein ehrliches, bewusstes gemeinsames Erleben von verletzlichen, weichen Gefühlen aus dem Hier-und-Jetzt Nähe, Verbundenheit und bietet Raum zum Wachsen.
Brüche, die zum Wachstum führen
Dieses Weiche, auf dem du gerade stehst, ist ein wichtiger Ort. Besteht die Möglichkeit, auf ihn zuzugehen und zu fragen, ob er auch diesen Vorfall nutzen möchte, um aufrichtig neugierig zu sein, mehr über euch zu lernen und beide daran zu wachsen? Was meinst du, würde er auf so eine offene, verletzliche Frage eingestimmt reagieren? Oder hast du das Gefühl, dass dich so mitzuteilen ein zu großes Risiko wäre und euer Miteinander gefährden würde?
Es gibt ein wirklich hervorragendes Buch darüber, warum genau diese Momente, in denen wir nicht auf einander eingestimmt sind, diese kleinen Brüche, in der Reparatur zu Wachstum führen. Leider ist es (noch) nicht auf Deutsch übersetzt: https://thepowerofdiscord.com/
Wir wünschen euch viel Nähe, Verbundenheit und Raum zum Wachsen als Freunde oder vielleicht auch in einer Liebesbeziehung.
Liebe Grüße
Lovie
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